Epikur, Men.127-130 Protokoll zum 19.02.2023
Zeit: 10:00 bis 12:00 Uhr - Ort: online
anwesend: Caren, Holger, Friedrich
Übersetzung:
Ἀναλογιστέον δὲ ὡς τῶν ἐπιθυμιῶν αἱ μέν εἰσι φυσικαί, αἱ δὲ κεναί, καὶ τῶν φυσικῶν αἱ μὲν ἀναγκαῖαι, αἱ δὲ φυσικαὶ μόνον· τῶν δὲ ἀναγκαίων αἱ μὲν πρὸς εὐδαιμονίαν εἰσὶν ἀναγκαῖαι, αἱ δὲ πρὸς τὴν τοῦ σώματος ἀοχλησίαν, αἱ δὲ πρὸς αὐτὸ τὸ ζῆν. | Man muss bedenken, dass von den Begierden die einen natürlich sind, die anderen leer, und von den natürlichen die einen notwendig, die anderen nur natürlich. Von den notwendigen sind die einen fürs Glücklichsein notwendig, die anderen für die Unbeschwertheit des Körpers wieder andere fürs Leben überhaupt. |
[128] τούτων γὰρ ἀπλανὴς θεωρία πᾶσαν αἵρεσιν καὶ φυγὴν ἐπανάγειν οἶδεν ἐπὶ τὴν τοῦ σώματος ὑγίειαν καὶ τὴν τῆς ψυχῆς ἀταραξίαν, ἐπεὶ τοῦτο τοῦ μακαρίως ζῆν ἐστι τέλος. τούτου γὰρ χάριν πάντα πράττομεν, ὅπως μήτε ἀλγῶμεν μήτε ταρβῶμεν. ὅταν δὲ ἅπαξ τοῦτο περὶ ἡμᾶς γένηται, λύεται πᾶς ὁ τῆς ψυχῆς χειμών, οὐκ ἔχοντος τοῦ ζῴου βαδίζειν ὡς πρὸς ἐνδέον τι καὶ ζητεῖν ἕτερον ᾧ τὸ τῆς ψυχῆς καὶ τοῦ σώματος ἀγαθὸν συμπληρώσεται. τότε γὰρ ἡδονῆς χρείαν ἔχομεν, ὅταν ἐκ τοῦ μὴ παρεῖναι τὴν ἡδονὴν ἀλγῶμεν· ὅταν δὲ μὴ ἀλγῶμεν, οὐκέτι τῆς ἡδονῆς δεόμεθα. Καὶ διὰ τοῦτο τὴν ἡδονὴν ἀρχὴν καὶ τέλος λέγομεν εἶναι τοῦ μακαρίως ζῆν. | Denn ihre nicht irrreführende Betrachtung weiß eine jede Annahme und Ablehnung zurückzuführen auf die Gesundheit des Körpers und die Ruhe der Seele, da dies das Ziel des Glücklich-Lebens ist. Seinetwegen nämlich tun wir alles, dass wir weder Schmerz noch Furcht empfinden. Wenn dies aber einmal bei uns geschieht, weil das Lebewesen nicht gehen muss wie zu etwas Fehlendem und nicht <etwas> anderes suchen muss, wodurch das für die Seele und den Körper Gute erfüllt werden kann. Denn dann haben wir das Bedürfnis nach Lust, wenn wir aber keinen Schmerz empfingen, Und deswegen sagen wir, dass die Lust Anfang und Ende |
[129] ταύτην γὰρ ἀγαθὸν πρῶτον καὶ συγγενικὸν ἔγνωμεν, καὶ ἀπὸ ταύτης καταρχόμεθα πάσης αἱρέσεως καὶ φυγῆς, καὶ ἐπὶ ταύτην καταντῶμεν ὡς κανόνι τῷ πάθει πᾶν ἀγαθὸν κρίνοντες. Καὶ ἐπεὶ πρῶτον ἀγαθὸν τοῦτο καὶ σύμφυτον, διὰ τοῦτο καὶ οὐ πᾶσαν ἡδονὴν αἱρούμεθα, ἀλλ’ ἔστιν ὅτε πολλὰς ἡδονὰς ὑπερβαίνομεν, ὅταν πλεῖον ἡμῖν τὸ δυσχερὲς ἐκ τούτων ἕπηται· καὶ πολλὰς ἀλγηδόνας ἡδονῶν κρείττους νομίζομεν, ἐπειδὰν μείζων ἡμῖν ἡδονὴ παρακολουθῇ πολὺν χρόνον ὑπομείνασι τὰς ἀλγηδόνας. πᾶσα οὖν ἡδονὴ διὰ τὸ φύσιν ἔχειν οἰκείαν[1] ἀγαθόν[2], οὐ πᾶσα μέντοι αἱρετή· καθάπερ καὶ ἀλγηδὼν πᾶσα κακόν, οὐ πᾶσα δὲ ἀεὶ φευκτὴ πεφυκυῖα[3].
| Sie haben wir nämlich als erstes und angeborenes Gut erkannt, und von ihr aus beginnen wir mit jeder Wahl und Abweisung, und zu ihr gehen wir zurück, wenn wir am Gefühl wie an einer Richtschnur alles Gute beurteilen. Und weil dies ein erstes Gut ist und éin angeborenes, wählen wir seinetwegen auch nicht jede Lust, sondern manchmal lassen wir viele Lüste aus, wenn uns als umfangreicheres das Unangenehme daraus folgt; und viele Schmerzen halten wir für stärker als Lustempfindungen, wenn für uns größere Lust folgt, weil wir lange Zeit die Schmerzen ausgehalten haben. Jede Lust also ist, weil sie <uns> zugehörige Natur hat, gut freilich nicht jede zu wählen; wie auch jeder Schmerz ein Übel ist, aber nicht jeder immer vermieden werden muss (als ein zu meidender von Natur geworden ist. |
[130] τῇ μέντοι συμμετρήσει ταῦτα πάντα κρίνειν καθήκει. χρώμεθα γὰρ τῷ μὲν ἀγαθῷ κατά τινας χρόνους ὡς κακῷ, τῷ δὲ κακῷ τοὔμπαλιν ὡς ἀγαθῷ. Καὶ τὴν αὐτάρκειαν δὲ ἀγαθὸν μέγα νομίζομεν, | Mit dem Abwägen/Berechnen freilich und Blick auf Nützlich und Unnütz gelingt es, das alles zu beurteilen. Denn wir brauchen/behandeln das Gute manchmal Und die Selbstgenügsamkeit halten wir für ein großes Gut, |
Grammatisches:
- Artikel oder fehlender Artikel:
- Das Prädikatsnomen bzw. Prädikativum steht in der Regel ohne Artikel, das zugehörige Subjekt aber bzw. das Beziehungswort mit Artikel.
Dies ist ein wesentliches Prinzip für die Ordnung der Satzstruktur.
z. B. in [130] τὴν αὐτάρκειαν δὲ ἀγαθὸν μέγα νομίζομεν „Wir halten die Genügsamkeit für ein großes Gut.“ - Verstärkend kann zum Prädikativum ein ὡς hinzutreten:
z.B.in [130] χρώμεθα τῷ ἀγαθῷ ὡς κακῷ „Wir gebrauchen/betrachten das Gute als/ wie ein Übel.“
oder in [129] ὡς κανόνι τῷ πάθει πᾶν ἀγαθὸν κρίνοντες „nach der Empfindung wie nach einer Richtschnur alles Gute beurteilend“ - Der Artikel kann auch durch ein Pronomen ersetzt werden:
z.B. in [129] πᾶσα οὖν ἡδονὴ … ἀγαθόν „Jede Lust ist also … ein Gut.“
oder [129] πόλλας ἀλγηδόνας ἡδονῶν κρείττους νομίζομεν „Viele Schmerzen halten wir für stärker als Lustempfindungen“ - Oder das Subjekt kann auch ganz durch ein Pronomen ersetzt werden:
z.B. in [129] ταύτην γὰρ ἀγαθὸν πρῶτον καὶ συγγενικὸν ἔγνωμεν „denn sie (die Lust) erkennen wir als erstes und angeborenes Gut“
oder [129] πρῶτον ἀγαθὸν τοῦτο καὶ σύμφυτον „Ein erstes Gut ist dies und ein angeborenes“
Ebenso in αἱ μέν εἰσι φυσικαί, αἱ δὲ κεναί „die einen sind natürlich, die anderen nichtig“
Auch in diesen Fällen erkennt man das Prädikativum/Prädikatsnomen am Fehlen des Artikels.
- Ebenso beim Partizip:
Das Partizip ohne Artikel ist prädikativ wie jedes andere Prädikativum auch:
[129] ἐπὶ ταύτην καταντῶμεν πᾶν ἀγαθὸν κρίνοντες: „auf sie gehen wir zurück als jedes Gut Beurteilende“ = „als solche, die “ = „ … wenn/ während/ weil/ obwohl wir jedes Gut beurteilen“
Stünde aber ein Artikel in dem Ausdruck, also „οἱ πᾶν ἀγαθὸν κρίνοντες“, stünde er parallel oder besser: attributiv zum Subjekt in καταντῶμεν „auf sie gehen wir zurück, die wir …“ Es entsteht also ein Relativsatz.
Und wenn der Ausdruck mit Artikel gar als Subjekt verstanden werden soll, dann müsste das Prädikat allerdings aufgrund der Kongruenz anders lauten, nämlich καταντῶσιν: „auf sie gehen zurück diejenigen, die jedes Gut beurteilen“.
Folgerung: Jedes Partizip ohne Artikel müssen wir als prädikativ auffassen, also mit endungslosem Partizip oder mit Konjunktionalsatz oder mit präpositionalem Ausdruck übersetzen. Letzteres wäre in unserem Beispiel: „bei der Beurteilung eines jeden Guts“
Oder in [129] μείζων ἡμῖν ἡδονὴ παρακολουθῇ … ὑπομείνασι τὰς ἀλγηδόνας
„eine größere Lust folgt für uns, wenn wir die Schmerzen aushalten“ = „nach dem Ertragen der Schmerzen“; aber nicht „die wir … ausgehalten haben“; denn es fehlt der bestimmte Artikel.
- Das Prädikatsnomen bzw. Prädikativum steht in der Regel ohne Artikel, das zugehörige Subjekt aber bzw. das Beziehungswort mit Artikel.
- ἔχω + Infinitiv
ἔχω λεγειν τι „Ich habe etwas zu sagen“ = „Ich kann etwas sagen“, aber auch
ἔχω πράττειν τι „Ich habe etwas zu tun“ = „Ich muss etwas tun“
[128] οὐκ ἔχοντος τοῦ ζῴου βαδίζειν ὡς πρὸς ἐνδέον τι „weil das Lebenwesen nicht zu etwas Fehlendem zu gehen hat“ = „ … gehen muss“ - zu ἔστιν ὅτε
vgl. ἔστιν ὅς ... = „es gibt jdn., der ...“ = „mancher“, ebenso εἰσιν οἵ ... „manche, einige“
ὅτε „wann, als, da, jedesmal wenn“; geläufiger mit ἄν = ὅταν + Konj. „wenn (immer)“ 3x in [128]
also ἔστιν ὅτε „es gibt (die Zeit), wenn“ = „manchmal“
z.B. es gibt die Zeit(en), wenn ich Kopfschmerzen habe = manchmal habe ich Kopfschmeerzen.
Überlegungen zum Inhalt:
Wir haben so viel über den Inhalt dikutiert wie lange nicht. Das wollte ich gern auch einmal darstellen. Aber meine Zeit reicht dafür nicht mehr aus.
Daher nur der Hinweis auf Epikurs Terminologie:
αἵρεσις || φυγή = beim κρίνειν im täglichen Leben „Wahl = Zustimmung || Vermeidung = Ablehnung“ von Handlungsalternativen
πάθος/ πάθη = körperliche Empfindung, Gefühl als Kriterium für Wahl oder Vermeidung. πάθος ist also der Obergriff für ἡδονή und ἀλγηδών und umfasst beides.
Zum Schluss des Protokolls kopiere ich auf der nächsten Seite nur noch die Skizze zu [127], die ich schon zur letzten Sitzung vorbereitet hatte.
Nächstes Treffen: Sonntag, 26.02., 10:00 Uhr
Vorbereitung dazu: wie gehabt; und dieses Protokoll bitte gründlich lesen, denn ich habe den Unterschied von prädikativ und attributiv schon mehrfach erläutert.