pEpikurHer5.35-38: Brief an Herodot 29.01.23

pEpikurHer35-38: Brief an Herodot 29.01.23
Eine hilfreiche kritische Einführung in die Erkenntnislehre Epikurs gibt Malte Hossenfelder in „Epikur“ im Beck-Verlag.

 

 

Rainer Nickel (Tuskulum)

Ἐπίκουρος Ἡροδότῳ χαίρειν.

Epikur grüßt Herodot.

Epikur grüßt Herodotos.

35 Τοῖς μὴ δυναμένοις, ὦ Ἡρόδοτε,
ἕκαστα τῶν περὶ φύσεωςI ἀναγεγραμμένων ἡμῖν ἐξακριβοῦν
μηδὲ τὰς μείζους τῶν συντεταγμένων βίβλους
διαθρεῖν
ἐπιτομὴν τῆς ὅλης πραγματείαςII
εἰς τὸ κατασχεῖν τῶν ὁλοσχερωτάτων γε δοξῶν
τὴν μνήμην ἱκανῶς
αὐτὸς παρεσκεύασα,
ἵνα παρ' ἑκάστους τῶν καιρῶν
ἐν τοῖς κυριωτάτοιςIII βοηθεῖν αὑτοῖς δύνωνται,
καθ' ὅσον ἂν ἐφάπτωνται τῆς περὶ φύσεως θεωρίας.

Denen, die nicht in der Lage sind, mein Herodot,
alles Einzelne des über die Natur von mir Geschriebenen
genau aufzunehmen/durchzuarbeiten,
auch nicht die größeren Bücher des Zusammengestellten
durchzulesen,
habe ich einen Abriss des ganzen Lehrgegenstands
zur genügenden Gedächtnisstütze der vollständigen Lehrsätze
°°
persönlich aufbereitet,
damit sie bei allen einzelnen [der] Gelegenheiten
in den wichtigsten Fragen sich helfen können,
insoweit sie die Ansicht über die Natur berühren.

(35) Für diejenigen, die nicht in der Lage sind,

alle meine Schriften über die Natur

gründlich zu studieren

oder die längeren Abhandlungen über dieses Thema durchzuarbeiten,

habe ich selbst einen Auszug

aus dem gesamten System angefertigt, lieber Herodotos, um ihnen zu helfen, die wichtigsten Lehrsätze, so gut es geht, im Kopf zu behalten, damit sie sich selbst bei jeder Gelegenheit

in den Hauptpunkten der Lehre helfen können,

so weit sie sich auf Naturphilosophie einlassen.

καὶ τοὺς προβεβηκότας δὲ ἱκανῶς
ἐν τῇ τῶν ὅλωνIV ἐπιβλέψει

τὸν τύπονV τῆς ὅλης πραγματείας

τὸν κατεστοιχειωμένον

δεῖ μνημονεύειν·

τῆς γὰρ ἀθρόας ἐπιβολῆςVI

πυκνὸν δεόμεθα,

τῆς δὲ κατὰ μέρος οὐχ ὁμοίως.

Aber auch die genügend Vorangeschrittenen

in der Betrachtung des Ganzen

^müssen^ das Modell des ganzen Tatbestandes,
das elementar ist,
erinnern (im Kopf haben).

Denn den zusammenfassenden Zugriff

benötigen wir häufig,

den aber im Detail nicht gleichermaßen.

Auch diejenigen, die in der Übersicht über das Ganze schon ziemlich weit fortgeschritten sind,

müssen sich des elementaren Grundrisses

des gesamten Systems

bewusst sein.

Denn wir benötigen häufig

den umfassenden Zugriff,

den Zugriff auf die Einzelheiten aber nicht so sehr.

36 Βαδιστέον μὲν οὖν καὶ ἐπ' ἐκεῖνα συνεχῶς,

ἐν <τε> τῇ μνήμῃ τὸ τοσοῦτο ποιητέον

ἀφ' οὗ ἥ τε κυριωτάτη ἐπιβολὴ

ἐπὶ τὰ πράγματα ἔσται

καὶ δὴ καὶ τὸ κατὰ μέρος ἀκρίβωμαVII πᾶν

ἐξευρήσεται,

τῶν ὁλοσχερωτάτων τύπων

εὖ περιειλημμένων καὶ μνημονευομένων·

Man muss also auch auf jenes beständig zugehen,

und in der Erinnerung dieses in dem Ausmaß bearbeiten,

von dem aus zum einen der wichtigste Zugriff

auf die Dinge geschehen wird/kann

und so denn auch jede Genauigkeit im Detail 

herausgefunden werden wird/kann,

wenn die am vollständigsten zusammenhängenden Modelle

gut umfasst sind und erinnert werden.

(36) Wir müssen also ständig auf jene Hauptpunkte der Lehre zurückgreifen und sie so weit im Gedächtnis behalten, dass von dort aus nicht nur der entscheidende Zugriff auf die Dinge erfolgt,

sondern man auch in jeder Hinsicht die genaue Erklärung in den Einzelheiten gewinnt,

nachdem die wichtigsten Grundlinien richtig verstanden und im Gedächtnis verankert sind.

ἐπεὶ καὶ τοῦ τετελεσιουργημένου

τοῦτο κυριώτατον τοῦ παντὸς ἀκριβώματος γίνεται,

 

 

τὸ ταῖς ἐπιβολαῖς ὀξέως δύνασθαι χρῆσθαι,

 

ἑκάστων πρὸς ἁπλᾶ στοιχειώματα

καὶ φωνὰςVIII συναγομένωνIX.

οὐ γὰρ οἷόν τε τὸ πύκνωμα

τῆς συνεχοῦς τῶν ὅλων περιοδείας

εἰδέναι μὴ δυνάμενον

διὰ βραχεῶν φωνῶν ἅπαν ἐμπεριλαβεῖν ἐν αὑτῷ

τὸ καὶ κατὰ μέρος ἂν ἐξακριβωθέν.

Denn auch den, der <sie> vollkommen durchgearbeitet hat,

kennzeichnet dies als das Wichtigste der ganzen Genauigkeit,

 

 

nämlich die Fähigkeit, die Zugriffe sicher zu verwenden,

 

indem jedes Einzelne auf die einfachen Elemente

und Benennungen zugeführt wird.

Denn nicht kann man die Komplexität

des beständigen Durchgangs des Ganzen

wissen/meistern, wenn man nicht in der Lage ist,

durch kurze Benennungen alles bei sich zusammenzufassen,

was immer auch im Detail genau erkannt werden könnte.

Denn auch für den Fachmann

ist dies die wichtigste Voraussetzung für die in jeder Hinsicht genaue Erklärung in den Einzelheiten,

dass er in der Lage ist, die Möglichkeiten des Zugriffs konsequent zu nutzen,

indem er alle Einzelheiten auf elementare Grundlagen und Begriffe bezieht.

Denn es ist unmöglich, die Ergebnisse komplexer Forschung über das Ganze zu erfassen,

wenn man nicht in der Lage ist,

alles, was auch in seinen Einzelheiten genau erklärt werden könnte, mit Hilfe knapper Begriffe vollständig in sein Bewusstsein aufzunehmen.

37 Ὅθεν δὴ πᾶσι χρησίμης οὔσης

τοῖς ᾠκειωμένοις φυσιολογίᾳX τῆς τοιαύτης ὁδοῦ,

 

παρεγγυῶν τὸ συνεχὲς ἐνέργημα ἐν φυσιολογίᾳ

καὶ τοιούτῳ μάλιστα ἐγγαληνίζων τῷ βίῳ

ἐποίησά σοι καὶ τοιαύτην τινὰ ἐπιτομὴν

καὶ στοιχείωσιν τῶν ὅλων δοξῶν.

Weil daher also diese derartige Methode für alle nützlich ist,

die mit der Naturlehre vertraut sind °°,

verfasste ich,

die ständige Beschäftigung mit der Naturlehre empfehlend

und v. a. durch eine solche Lebensweise in Ruhe lebend,
dir auch eine derartige Zusammenfassung

und Elemtarlehre der gesamten Lehrsätze.

(37) Da nun für alle, die sich mit Naturphilosophie vertraut gemacht haben, ein solches Vorgehen nützlich ist, habe ich, der ich zu ununterbrochener Beschäftigung mit Naturphilosophie auffordere und vor allem in einem solchen Leben meine innere Ruhe finde, für dich einen solchen Auszug und elementaren Abriss aller Lehren verfasst.

Πρῶτον μὲν οὖν

τὰ ὑποτεταγμένα τοῖς φθόγγοις,

ὦ Ἡρόδοτε, δεῖ εἰληφέναι,

ὅπως ἂν τὰ δοξαζόμενα ἢ ζητούμενα

ἢ ἀπορούμενα ἔχωμεν εἰς ταῦτα ἀναγαγόντες ἐπικρίνειν,

καὶ μὴ ἄκριτα πάντα ἡμῖν <ἴῃ> εἰς ἄπειρον ἀποδεικνύουσιν ἢ κενοὺς φθόγγους ἔχωμεν.

Zuerst nun muss man

das den Benennungen zugrunde Liegende,

mein Herodot, erfasst haben,

damit wir, was vermutet oder gesucht oder

oder <völlig> problematisch ist, nach dem Rückgriff darauf

entscheiden können

und uns nicht alles ununterentschieden ins Unendliche geht,

bei der Erläuterung und wir leere Benennungen haben.

Zuerst, lieber Herodotos, müssen wir

begreifen, was den "Worten zugrunde liegt,

 

um die Vermutungen, Fragen

und ungeklärten Zusammenhänge darauf beziehen und richtig beurteilen können

und uns nicht alles, wenn wir Beweise führen, ungeprüft im Unendlichen verläuft, oder wir nur leere Worthülsen haben.

38 ἀνάγκη γὰρ τὸ πρῶτον ἐννόημαXI

καθ' ἕκαστον φθόγγον βλέπεσθαι

καὶ μηθὲν ἀποδείξεως προσδεῖσθαι,

εἴπερ ἕξομεν τὸ ζητούμενον

ἢ ἀπορούμενον καὶ δοξαζόμενον ἐφ' ὃ ἀνάξομεν.

Denn es ist nötig, dass der erste/ursprünliche Gedankeninhalt
gemäß/bei einer jeden Benennung betrachtet wird

und überhaupt keiner Erläuterung bedarf,

wenn wir haben werden/wollen, worauf wir das Gesuchte

oder Problematische und Vermutete zurückführen werden.

(38) Denn bei jedem Wort muss die ursprüngliche Bedeutung klar gesehen werden,

und dies bedarf keines weiteren Beweises,

wenn wir einen festen Punkt haben wollen,

auf den wir die Frage oder den ungeklärten Zusammenhang und die Vermutung beziehen können.

Ἔτι τε κατὰ τὰς αἰσθήσεις δεῖ

πάντα τηρεῖν

καὶ ἁπλῶς τὰς παρούσας ἐπιβολὰς εἴτε διανοίας

εἴθ' ὅτου δήποτε τῶν κριτηρίωνXII,

ὁμοίως δὲ καὶ τὰ ὑπάρχοντα πάθη,

ὅπως ἂν καὶ τὸ προσμένον

καὶ τὸ ἄδηλονXIII ἔχωμεν

οἷς σημειωσόμεθα.

Ferner auch muss man hinsichtlich der Wahrnehmungen

alles prüfen

und einfach die vorhandenen Zugriffe sei es des Denkens

sei es von irgendeiner der Kriterien,

ebenso aber auch die vorhandenen Empfindungen,

damit wir °° wohl auch haben,

womit wir °° das <auf Nachweis> Wartende

und das nicht Wahrnehmbare °° bezeichnen können.

Ferner müssen wir anhand unserer Sinneswahrnehmungen alles genau beobachten,

d . h . ganz einfach anhand der jeweils vorhandenen

Zugriffe des Denkens oder irgendeines anderen Mittels der Urteilsfindung, ebenso auch anhand der gerade vorhandenen Gefühle, damit wir die Mittel haben,

mit denen wir das bestimmen können,

was Bestätigung erwartet und was sinnlich nicht wahrnehmbar ist.

Ταῦτα δεῖ διαλαβόντας

συνορᾶν ἤδη

περὶ τῶν ἀδήλων·

πρῶτον μὲν ὅτι οὐθὲν γίνεται ἐκ τοῦ μὴ ὄντος.

Wenn wir dieses unterschieden haben, müssen wir
nun einen Überblick bekommen

über das nicht Wahrnehmbare.

Zuerst, dass nichts entsteht aus dem, was nicht ist.

Aber wenn wir dies begriffen haben, ist es angebracht, dass wir uns zugleich über die Dinge, die sinnlich nicht wahrnehmbar sind, Gedanken machen.

Erstens gilt, dass nichts aus dem Nichtseienden entstehen kann

 

Gliederung des Absatzes zur Kanonik:

        1. Die Zusammenfassung der Naturlehre ist für die Anfänger eine Hilfe bei alltäglichen Entscheidungen
          und für die Fortgeschrittenen eine Hilfe für den Überblick über das ganze Lehrgebäude.
        2. Da selbst der Kenner den Überblick über das Ganze im Kopf haben muss, um sichere Erkenntnisse (ἐπιβολαί) im Detail gewinnen zu können,
          ist die Zusammenfassung also für alle nützlich.
        3. Zur grundlegenden Beurteilung des jeweiligen Gegenstand, nämlich ob er der gesuchte Gegenstand oder nur eine Vermutung oder gar völlig problematisch ist,
          bzw. ob er zwar wahrgenommen, aber noch ohne (begrifflichen) Bestätigung ist oder ob er nicht wahrnehmbar ist,
          muss bei Betrachtung eines Gegenstandes die in den Sinn kommende zugehörige Bezeichnung herangezogen werden (Naturalismus)
          und er muss durch den begrifflichen Zugang (ἐπιβολή), weitere Kriterien und die ausgelöste Empfindung geprüft und bezeichnet werden (Sensualismus).

Nächstes Treffen: Sonntag, 05.02.2023, 10:00 Uhr (in der Erwartung, dass der Termin Ulf passt)

Vorbereitung dazu:
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Über eingereichte Übersetzungen freue ich mich. Ist es zu viel verlangt, dass Ihr die Einrichtung links Text, rechts Übersetzung selbst herstellt? Wenn ich das vorbereiten soll, sagt bitte Bescheid.